Der Business-Case für digitale Barrierefreiheit: Mehr als nur eine Chance!
Die Notwendigkeit, digitale Produkte barrierefrei zu gestalten, eröffnet heutzutage mehr denn je eine Vielzahl von Wachstumschancen. Mit zunehmenden Vorteilen wie der Erschließung unverzichtbarer Märkte und der Steigerung der Mitarbeitermotivation geht jedoch auch das Risiko einher, bei Untätigkeit zurückzufallen. Warum lohnt sich eine Investition in die Zugänglichkeit digitaler Medien?
Von Lochkarten zu Touchscreens: Die Evolution der Computernutzung
Früher war die Interaktion mit Computern ein Privileg, das nur wenigen Techniker:innen vorbehalten war. Als dann die Befehlszeilenschnittstelle kam, wurde die Welt der Hard- und Software einer breiteren Nutzerschaft zugänglich gemacht. Die Entwicklungen gingen weiter und mit dem Aufkommen grafischer Benutzeroberflächen wurde der Zugang noch einfacher, selbst für weniger technisch versierte Personen. Und heute? Smartphones mit Touchscreens oder Virtual-Reality-Brillen haben die Art und Weise, wie wir mit Computern interagieren, revolutioniert – intuitiv und zugänglich wie nie zuvor. Vermeintlich, denn das Potenzial jener Kunden, deren Fähigkeiten sich von denjenigen unterscheiden, für die Unternehmen ihre digitalen Produkte typischerweise entwickeln, liegt im 9-stelligen Bereich.
Call for innovation: Die Zugänglichkeit von digitalen Produkten kann zum USP (Unique Selling Proposition, Alleinstellungsmerkmal) werden
Laut den Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO), leben 1,3 Milliarden Menschen weltweit mit einer Behinderung. Diese 16 Prozent der Weltbevölkerung bilden den größten Minderheitenmarkt der Welt, der nicht zuletzt aufgrund unserer alternden Bevölkerung stetig wächst.
Etwa 760 Millionen Menschen gehören aktuell der alternden Bevölkerung an. Nehmen wir diese demografische Gruppe genauer unter die Lupe, sieht man, dass noch Aufholbedarf besteht:
Die Babyboomer Generation hat im Jahr 2011 das Alter von 65 Jahre erreicht – eine Schicht, die nicht nur sattelfest im Leben steht, sondern auch konsumfreudig ist. Diesem enormen Potenzial stehen aber auch Herausforderungen im Umgang mit modernen Technologien gegenüber. Etwa der Verlust des Kurzzeitgedächtnisses, motorische Einschränkungen und Schwierigkeiten beim Lesen kleiner Schriften sind nur einige der Hindernisse, die ihnen den Zugang zu digitalen Produkten und Dienstleistungen erschweren.
Aber dabei handelt es sich nur um einen kleinen Teil, denn Behinderung umfasst eine Reihe von Herausforderungen, die irgendwann fast jeden von uns betreffen könnte. Tatsächlich sind manche Behinderungen weiterverbreitet, als man denken würde. Beispielsweise betrifft Farbenblindheit bzw. Farbschwäche etwa einen von 12 Männern und eine von 200 Frauen weltweit. Ist die Wahrnehmung der Grundfarben eingeschränkt, können Unterschiede verschiedener Farben verschwimmen und so die Unterscheidung schwieriger werden. Ist auf einer Webseite eine bestimmte Bedeutung mit einer Farbe verbunden, kann es sein, dass 8 Prozent aller Männer und 0,4 Prozent aller Frauen diese Verknüpfung nicht richtig erkennen.
Auch einige andere Herausforderungen, die traditionell nicht als „Behinderungen“ angesehen werden, liegen in Wahrheit auf demselben Spektrum. Jeder von uns wird irgendwann in seinem Leben vorübergehende oder situationsbedingte Behinderungen erleben. Eine Person, die ein Baby im Arm hält, profitiert zum Beispiel von mobilen Apps, die so gestaltet sind, dass sie mit nur einer Hand bedient werden können. Auch Optionen für die Spracheingabe, nicht nur für Text, sollten die Funktionen der Apps zulassen.
Insgesamt bilden diese Gruppen eine beachtliche Marktlücke, die nicht nur nach innovativen Lösungen ruft, sondern auch eine Vielzahl ungenutzter Chancen birgt.
Der Curb-Cut Effekt: Alle profitieren von digitaler Zugänglichkeit
Digitale Zugänglichkeit ist das Ausmaß, in dem Kunden in der Lage sind, einen Nutzen aus einem digitalen Erlebnis zu ziehen, unabhängig von ihren unterschiedlichen Fähigkeiten. Digitale Produkte also zugänglich(er) zu machen, ist ein Wettbewerbsvorteil, den es Wert ist auszuschöpfen. Als Netflix damit begonnen hat, ihren Videos optionale Audiobeschreibungen für Menschen mit Sehbehinderung hinzuzufügen, war das nicht nur für diese Zielgruppe eine Bereicherung. Auch andere Kunden haben davon profitiert – beispielsweise, um Netflix während der Autofahrt wie ein Hörbuch zu hören. Apropos, Hörbücher wurden ursprünglich für Menschen mit Sehbehinderung entwickelt, die heute auch von Menschen gehört werden, die zwar lesen könnten, die Inhalte aber dennoch lieber hören wollen.
Zur Nutzung und Wahrnehmung von Untertiteln und Transkripten hat eine Studie mit über 2.000 Student:innen der Oregon State University ergeben, dass 71 Prozent der Student:innen ohne Hörbehinderung Untertitel nutzen, viele davon als Lernhilfe. Ebenso haben 66 Prozent der Student:innen, deren Erstsprache nicht Englisch ist, Untertitel sehr oder äußerst hilfreich gefunden.
Die Liste ließe sich fortführen, denn es gibt unzählige Beispiele, die zeigen, wie barrierefreie Technologie nicht nur dazu beiträgt, Menschen mit Behinderung zu unterstützen, sondern eine breitere Nutzerbasis anzusprechen, im digitalen wie analogen Kontext.
Werte schaffen und Sinn stiften: Die Bedeutung von Wertorientierung der digitalen Zugänglichkeit
Mangelnde Barrierefreiheit lässt sich durch einfache Tests leicht nachweisen, was sich negativ auf die Reputation auswirken kann. Umgekehrt, bietet die digitale Zugänglichkeit nicht nur einen direkt messbaren Mehrwert, sondern trägt auch zur Schaffung von Werten und Sinnhaftigkeit bei.
„Wir wollen die Welt besser verlassen, als wir sie vorgefunden haben.“ Diese Worte von Tim Cook an einen seiner Investoren unterstreichen die zunehmende Bedeutung von Wertorientierung und Sinnstiftung in unserer Gesellschaft. Immer mehr Menschen suchen Produkte von Marken, die ihre eigenen Werte teilen und sich für Inklusion einsetzen – vor allem Freunde und Familie von Menschen mit Behinderung teilen diese Einstellung. Unternehmen, die deutlich machen, dass sie alle ihre Kunden, unabhängig von Alter oder Fähigkeiten, wertschätzen, werden das Vertrauen vieler Verbraucher:innen gewinnen, die diese Werte teilen. Darüber hinaus trägt eine werteorientierte Unternehmensführung dazu bei, ein Gefühl von Sinn und erfüllender Arbeit bei den Mitarbeiter:innen zu wecken, was sich wiederum positiv auf die Geschäftsergebnisse auswirken kann.
Der Weg zum Erfolg der digitalen Barrierefreiheit
Aufgrund der heutigen technischen Möglichkeiten können Vermutungen wie Einschränkungen beim Webdesign und extreme Mehrkosten bei der Umsetzung von Barrierefreiheit schnell aus dem Weg geräumt werden. Barrierefreiheit von Anfang an mitbedacht, auch schon bei der Entwicklung der Corporate Identity, erhöht die Kosten bei einem Relaunch-Prozess nur marginal. Auf dem Weg zur digitalen Zugänglichkeit gibt es jedoch noch weitere Dinge zu beachten.
Bei den Richtlinien aufholen und interne Zugänglichkeitspolitik definieren: Gleichzeitig sieht die Europäische Union mit dem Jahr 2025 eine Legislative mit rechtlichen Rahmenbedingungen zur digitalen Inklusion und Zugänglichkeit vor. Das bedeutet, dass es nicht nur Verpflichtungen dahingehend geben wird, sondern auch Leitfäden, die bei der Gestaltung und Umsetzung der digitalen Barrierefreiheit eine Richtung vorgeben. Den technischen Standard, auf den sich die meisten Gesetze hierbei beziehen, geben die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) vor. Welche Zugänglichkeitsrichtlinien und Standards ein Unternehmen letztlich einhalten muss bzw. will, sollte nach den individuellen Rahmenbedingungen auf Basis der Vision und Leitbilder konzipiert werden.
Internes Sponsorship und Budget sicherstellen: Allen voran und als Grundbaustein braucht es jedoch einen Business Case, um Unterstützung und Budget im Unternehmen zu sichern. Die Integration der digitalen Barrierefreiheit in die Gestaltung und Entwicklung digitaler Produkte erfordert das Engagement aller beteiligten Abteilungen – einschließlich Marketing, Design, Entwicklung, Qualitätssicherung und Produktmanagement – Voraussetzung, um dieses Engagement zu erreichen, ist die Unterstützung durch die Unternehmensleitung (top-down). Jeder Mitarbeiter muss Barrierefreiheit verstehen, unterstützen und sie zu einem Teil seiner Arbeit machen.
Inspiration von den Expert:innen einholen: Geht man den Weg strategisch smart an, sollte man neben der Einhaltung der WCAG, auch integrative Designpraktiken anwenden, wie z.B. die Zusammenarbeit mit Menschen, die marginalisierter Gemeinschaften angehören – einen Ansatz, wie man das umsetzen kann, kann im Blog Digitale Inklusion: Breaking Boundaries in Tech Design nachgelesen werden. Dadurch wird sichergestellt, dass auch wirklich alle Anforderungen der betroffenen Personengruppen im Design einbezogen werden. Auch für Schulungen, regelmäßige Audits und manuelle Tests sollte man diesen Ansatz in Betracht ziehen.
In a nutshell: Die Zugänglichkeit digitaler Produkte eröffnet nicht nur Wachstumschancen, sondern trägt auch zur Schaffung von Werten und Sinnhaftigkeit bei. Unternehmen, die sich für Inklusion einsetzen, gewinnen das Vertrauen ihrer Kunden und fördern ein positives Arbeitsumfeld für ihre Mitarbeiter:innen. Der Weg zum Erfolg der digitalen Barrierefreiheit erfordert die Berücksichtigung von Richtlinien wie den Web Content Accessibility Guidelines, das Engagement aller Unternehmensbereiche sowie die Einbindung von Expert:innen und betroffenen Gemeinschaften. Eine Investition in die Zugänglichkeit digitaler Medien lohnt sich nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht, sie trägt auch zur Schaffung einer inklusiveren Gesellschaft bei.
Quellen:
https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/disability-and-health
https://www.colourblindawareness.org/colour-blindness/
https://go.3playmedia.com/rs-student
https://www.rod-group.com/research-insights/annual-report-2020/
Autorin:
Daniela Tinhof (AT)