Im Handel tickt die Uhr
Viel Aufmerksamkeit erregte die Beinahe-Liquidation der ehemaligen Traditionsmarke SEARS vor einem Involvenzgericht in New York, die zur selben Zeit über die Bühne ging. Denn die notwendige digitale Transformation im Handel in den USA hat an neuer Ernsthaftigkeit gewonnen, seit Finanzinvestoren zunehmend auf die Uhr blicken, wenn es um die Umsetzung derselben geht.
Onlineplayer sowie die Einkommensspaltung in den USA machen es ehemaligen Markengrößen wie GAP, JCPenney, Kohls oder Macy´s schwer, mit der Geschwindigkeit der Veränderung in der Branche mitzuhalten. Während innovative Player wie der Maßschuh-Anbieter ally.nyc, die Optikketten Warby Parker oder Bonobos (eben erst um 310 Mio USD von Walmart erworben) eine Nische nach der anderen erobern, tun sich traditionelle Unternehmen bereits auffällig hart, überhaupt an die notwendige Finanzierung für den digitalen Wandel zu kommen.
Wegbrechen der Mittelklasse und Verschiebung Richtung online
Das Sterben im Handel vereint zwei Aspekte, von denen einer hausgemacht ist: über Jahrzehnte wurden in den USA hohe Flächenkapazitäten im Markt aufgebaut. Das gleichzeitige Wegbrechen der Mittelklasse UND der Marktanteile Richtung online verschärft somit die Lage. Der Markt glaubt Händlern nun weniger als noch vor zwei, drei Jahren, dass sie die Kehrtwende hinbekommen und die prognostizierten Umsatzeinbussen der nächsten 5 Jahre mit digitalen Geschäftsmodellen auffangen können, wenn die dafür nötigen digitalen Plattformen noch nicht einmal gebaut sind.
Spektakuläre Insolvenzen werden in den nächsten Jahren somit eher zur Regel denn zur Ausnahme und dabei ist der vorhergesagte konjunkturelle Abschwung 2019 noch gar nicht mit eingerechnet.
Aber das ist noch nicht alles: Amazon baut seine Präsenz in so gut wie allen Bereichen aus. Der Investor Warren Buffet, der den Handel schon vor Jahren davor warnte, Amazon keinen Vorsprung von 7 Jahren einzuräumen, bemerkt jetzt, dass der Vorsprung des Powerhauses aus Seattle in manchen Fällen eher 20 Jahre beträgt.
Nachzügler kämpfen nach wie vor mit Daten-, Kultur- und Strategieproblemen, während Amazon mit Amazon Go und Alexa schon die nächsten beiden Revolutionen – Checkout und Sprache – nicht etwa erarbeitet, sondern bereits landesweit ausrollt. Dies kommt wiederum bei Investoren nicht gut an, die immer seltener an Unternehmen glauben wollen, bei denen Digitalisierung ein bloßes Lippenbekenntnis bleibt.
First Mover erreichen Marktreife
Auf der Positivseite bemerken wir, dass bei First Movern die in den vergangenen Jahren angekündigten Innovationen Marktreife erreicht haben. In-Store Analytics und Kommunikation, personalisierte Angebote, Automatische Disposition mittels Artificial Intelligence, Dynamic Pricing – all das ist bei den ersten Stores Realität. Erste Marken, die den Zug der Zeit vor Jahren rechtzeitig erkannt haben, haben auch die wichtigen End-to-End Prozesse gemeistert: click & collect, return-in-store, online-offline Konvergenz, same day delivery usw.
Das Implementieren von Technologie ist aber nicht die Lösung aller Probleme, sondern eher wie das Abarbeiten verspätet abgegebener Hausaufgaben zu verstehen. Denn Zeit ist ein wesentlicher Faktor geworden: Die Digitalisierung des Handels geht weit über das Thema e-Commerce hinaus und betrifft Firmen jeder Größenordnung. Je früher sich Unternehmen damit auseinandersetzen, umso eher gelingt das Überleben. Während positive wie negative Szenarien früher nur in Beraterfolien vorkamen, gibt es nun für beide Schicksale im Handel die ersten realen Beispiele.