Unsere Welt gewinnt zunehmend an Komplexität. Dies ist uns nicht nur bewusst, indem große Ereignisse, wie die aktuelle Pandemie uns und unsere Verhaltensweisen völlig neu definieren, sondern auch, indem man zusehen kann, wie Technologien und Innovationen mit atemberaubender Geschwindigkeit voranschreiten. Tatsächlich ist dies nicht nur ein Gefühl. Alle 13 Monate verdoppelt sich im Durchschnitt unser verfügbarer Datenspeicher, alle 21 Monate die Informationsgeschwindigkeit. Hatten Unternehmen in den 50igern noch eine Lebensspanne von über 60 Jahren, so ist diese aktuell auf unter 18 Jahre gefallen.

Um dieser neuen Lebensrealität gerecht zu werden, müssen wir uns nicht nur beständig neu orientieren und auf eine zunehmende Komplexität einstellen, die uns oft den Wunsch nach Planungssicherheit verweigert, sondern auch bereit sein, uns weiterzuentwickeln und in allen Belangen auszuprobieren, zu reflektieren und zu lernen.

 

Vom Growth-Mindset zur agilen (R)evolution

In diesem Zusammenhang sind in den letzten Jahren immer wieder neue Konzepte und Ansätze in den Fokus gerückt, die uns in diesem Unterfangen unterstützen sollen. Wir sprechen hier im agilen Umfeld z.B. vom Ansatz des „Growth Mindsets“, welches besagt, dass Menschen generell Potential in sich tragen, immer noch (dazu) lernen und sich weiterentwickeln können und dass sie somit nicht „fix“ an ihre Aufgaben, Tätigkeiten und Fähigkeiten gebunden sind. Eingebunden in eine Umgebung, die besonders nach agilen Prinzipien handelt und denkt, kann sich damit eine Kultur des gegenseitigen Ausprobierens und Lernens entwickeln, in der jeder Mitarbeiter die Möglichkeit hat, an seinen Aufgaben, Arbeitsmethoden und den Modis der Zusammenarbeit zu wachsen. Zentraler Bestandteil eines solchen Unterfangens sind gut durchdachte, faire Feedback Mechanismen und Strukturen, aber auch ein Umfeld der „psychologischen Sicherheit“, das es ermöglicht Reflexion, kritische Diskussion und Fehlerkultur als Chance und Steigbügel zur Entwicklung und nicht als potentielle Gefahr und Abwertung wahrzunehmen.

 

Entwicklung auf rein fachlicher Ebene ist nicht mehr ausreichend

In lernenden Organisationen wird im Zuge von Fehler- und Feedbackkultur häufig auf fachlicher Ebene gelernt und Entwicklung vorangetrieben, man ist dabei häufig sehr stark rational und funktional orientiert.

In der Arbeitswelt versuchen wir damit oft das Unmögliche: dass wir einen Teil unserer Persönlichkeit, unserer Befindlichkeiten und dem, was uns ausmacht, an der Tür abgeben können. Wir tun dabei so, als ob all diese Dinge keinen Einfluss auf unsere Aufgaben, täglichen Entscheidungen und Zusammenarbeit hätte, was natürlich nicht so ganz der Wahrheit entspricht, denn schließlich sind wir immer noch ganz Menschen und können nicht einfach Teile nach Wunsch von uns abtrennen. In seinen Arbeiten über Unternehmenskultur sprich Robert Kegan, Professor für Organisationsentwicklung an der Harvard Graduate School, darüber, wie sehr uns dieses Verhalten beeinflusst, und darüber, dass es dazu führt, dass wir somit eigentlich einen zweiten Job machen: nämlich den zu verschleiern, was wir alles nicht können, wovor wir Angst haben oder wo wir uns ungenügend fühlen. All diese Komponenten führen dazu, dass wir weniger mentale Kapazitäten für unsere eigentlichen Aufgaben zur Verfügung haben. Denn meistens reichen Feedback und Fehlerkultur allein nicht aus, um dieses Dilemma aufzulösen. Sie sind ein guter erster Schritt, aber wir haben dabei noch einen guten Weg vor uns, um Mitarbeiter und Organisation tief und nachhaltig weiter zu entwickeln.

Was können wir also tatsächlich tun?

„Feast on your imperfections, or starve on your ego” (Bryan Ungard, Decurion)

Wir können beginnen uns selbst und unsere Mechanismen in Zuge einer „Deliberately Developmental Organization“ zu hinterfragen und damit starten, zu akzeptieren, dass Mitarbeiter (und natürlich auch die Führungsetage) von ihren Befindlichkeiten, Glaubenssätzen und individuellen Weltanschauungen beeinflusst im Arbeitsumfeld agieren. Die Idee einer DDO ist, nicht nur außen und im Sinne des eigenen fachlichen Wissens voranzukommen, sondern sich sehr stark um die eigene innere Perspektive und das innere Wachstum zu kümmern. Die Arbeit an einem selbst soll somit helfen nicht nur mit sich selbst besser umgehen zu können, sondern natürlich auch, schädliche psychologische Muster und Glaubenssätze abzulegen, wieder stärker Verantwortung für das eigene Umfeld und dessen Gestaltung zu übernehmen, als auch im Arbeitsumfeld besser und klarer agieren zu können. Erfolgreiche Unternehmen, wie Ray Dalio mit Bridgewater, Next Jump oder Decurion zeigen dabei vor, welche Methoden sie für die Umsetzung wählen: 

  1. Schaffung eines sicheren Umfelds und Aufbauen von Vertrauen. Fehlerkultur wird als explizites Lernumfeld definiert
  2. Mitarbeiter haben Buddys und Entwicklungs Coaches, mit denen sie regelmäßige Gespräche auf persönlicher und fachlicher Ebene führen und entsprechende Techniken zur Selbstreflexion erlernen (Developmental Conversations)
  3. Reflexion und Verständnis ist für jeden zugänglich: Jeder Mitarbeiter darf Kritik äußern und Entscheidungen hinterfragen, und ist aktiv angehalten auch Beiträge zur Verbesserung zu liefern
  4. Probleme und persönliche Zielsetzungen werden nach dem Prinzip „Welche Glaubenssätze und Ängste habe ich, die mir in der Erreichung im Wege stehen“ hinterfragt und ausdefiniert.
  5. Identifikation von persönlichen Schwächen und Entwicklungsplänen, als auch Zuweisung eines „Accountability Partners“, welcher beim Einhalten und Reflektieren behilflich ist.
  6. Schnelle Rollenentwicklung und Transformation: Beständige Herausforderungen werden geschaffen, indem Mitarbeiter neue Rollen zugewiesen werden, sobald sie die alte gemeistert haben. Somit wird Stagnation vermieden und eine hohe Lernrate geschaffen.

 

Lebenslanges Lernen wird zur lebenslangen Weiterentwicklung

All diese Methoden und dazugehörenden Formate, sollen dabei helfen uns als ganze Menschen weiter zu entwickeln. Dabei ist dies natürlich nicht nur Selbstzweck, sondern es lässt sich auch ein Business Case daraus ableiten. Denn wenn man es schafft Mitarbeiter so weiterzuentwickeln, sodass sie verstehen wodurch sie in ihrem Erfolg (mental) behindert werden und wie sie dies aus dem Weg schaffen können schafft man nicht nur eine bessere und ehrlichere Form der Zusammenarbeit, sondern damit auch ein wesentlich produktiveres, kreativeres Arbeitsumfeld, in dem wieder das gemeinsame Ziel und die gemeinsame Arbeit in den Fokus rücken kann.

 

 Autor: Bernadette Fellner
Innovation and Digital Transformation Senior Manager
PwC Digital Consulting